Sehr geehrte Damen und Herren,
die Tarifvertragsparteien der privaten Versicherungswirtschaft haben mit Tarifabschluss vom 24. November 2007 die Einführung von „beschäftigungswirksamen Lohngruppen“ (Gehaltsgruppen A und B) im Bereich der Posteingangsbearbeitung („Scannen und Erkennen“) vereinbart. Hintergrund war die bereits seit der Tarifrunde 2003 erhobene und seither aufrechterhaltene Forderung des AGV, dem zunehmenden „Ausbluten“ der Gehaltsgruppen I und II durch geplante und zum Teil bereits durchgeführte Outsourcing-Maßnahmen der vom Anwendungsbereich der Flächentarifvertragsregelungen erfassten Unternehmen zu begegnen (vgl. hierzu auch Seifert/Hopfner, Kommentar PVT, 7. Aufl. § 4 MTV Rdn. 6).
Der AGV hat mit TN 9/2007 vom 30. November 2007 die neuen Regelungen bereits eingehend erläutert.
Einige Zeit nach dem Tarifabschluss machte die Gewerkschaft ver.di einen „Präzisierungsbedarf“ hinsichtlich der tariflichen Normierung geltend. Am 1. April 2008 fand hierzu ein Spitzengespräch zwischen dem AGV und ver.di statt. Im Rahmen dieses Gesprächs verlangte die Gewerkschaft den Abschluss einer Protokollnotiz, zur Klarstellung einiger aus ihrer Sicht offener Punkte. Konkret forderte ver.di insbesondere Folgendes:
- Klarstellung in einer Präambel, dass mit den Gehaltsgruppen A und B „Ausgliederungen und Ausgründungen verhindert und die neu Eingestellten in den Schutzbereich aller bestehenden Tarifverträge einbezogen werden sollen“.
- Herausnahme von zum 1. Januar 2008 befristet beschäftigten Arbeitnehmern aus dem Anwendungsbereich der Gehaltsgruppen A und B durch entsprechende Einschränkung der Auslegung des Begriffs der „Neueinstellung“.
- Ausschluss der gem. § 4 Ziff. 2 a Abs. 1 Satz 2 MTV geltenden „Geprägetheorie“ für Mischtätigkeiten bei Anwendung der Gehaltsgruppen A und B. Immer dann, wenn ein Mitarbeiter auch nur in geringstem Umfang Tätigkeiten verrichtet, die nicht unter den Anwendungsbereich der Gehaltsgruppen A und B fallen, sollen nach Vorstellung von ver.di diese Gehaltsgruppen nicht mehr angewendet werden dürfen.
- Klarstellung, dass unter die Tätigkeit des „Scannens“ nur das Ablichten von Dokumenten fällt, nicht jedoch auch das Scannen von Produkten.
- Feststellung der Geltung von § 5 Ziff. 2 MTV, nach welchem vorgesehen ist, alle früheren Beschäftigungsjahre als Berufsjahre anzuerkennen.
Der Vorstand des AGV hat am 1. Juli 2008 beschlossen, dem Wunsch der Gewerkschaft nach Abschluss einer Protokollnotiz nicht näherzutreten. Die Forderungen von ver.di werden nicht als reine Präzisierungen gesehen, sondern als Versuch, die materielle Rechtslage abzuändern.
Ungeachtet der Tatsache, dass die entsprechenden Forderungen von ver.di aus Sicht des AGV nicht Gegenstand der Verhandlungen vom 24. November 2007 gewesen sind, ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung von Tarifverträgen nicht – wie bei der Auslegung von Willenserklärungen i. S. v. § 116 ff. BGB oder Rechtsgeschäften i. S. v. § 145 ff. BGB – die §§ 133, 157 BGB Anwendung finden. Die Tarifvertragsauslegung orientiert sich nicht losgelöst vom Wortlaut der Regelungen am Willen einer oder beider Parteien. Vielmehr finden auf Tarifverträge wegen ihrer normativen Geltung die Regeln der Gesetzesauslegung Anwendung (vgl. Wiedemann TVG § 1 Rdn. 769 ff.; st. Rspr. des BAG vgl. BAG vom 25.10.1995 – 4 AZR 478/94 – AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel).
Aus Sicht des AGV ergibt sich unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe folgende Rechtslage:
- Die Anwendung der Gehaltsgruppen A und B setzt nicht voraus, dass Ausgliederungen und Ausgründungen verhindert werden. Dies ist lediglich ein von den Tarifvertragsparteien verfolgtes politisches Ziel, nicht jedoch Tatbestandsvoraussetzung der Anwendung der Gehaltsgruppen.
- Mit dem Begriff der „Neueinstellung“ ist jeweils der neue Abschluss eines Arbeitsvertrages gemeint. Genau in dieser Situation soll der Arbeitgeber durch die „beschäftigungswirksamen Lohngruppen“ A und B zum Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einem Bewerber motiviert werden. Eine solche Situation tritt auch beim Auslaufen einer bisherigen Befristung ein. Aus diesem Grunde liegt eine „Neueinstellung“ auch dann vor, wenn ein Arbeitnehmer, der bisher im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses beschäftigt worden ist, einen Anschlussarbeitsvertrag erhält.
Dessen ungeachtet wird bei der Übernahme befristet beschäftigter Angestellter, welche zunächst nach Gehaltsgruppe I oder II bezahlt wurden, zu prüfen sein, ob es im Hinblick auf deren Arbeitsmotivation Sinn macht, diese nach Übernahme in ein unbefristetes oder weiteres befristetes Arbeitsverhältnis unter Berufung auf die Rechtslage in TG A oder B einzustufen. - Die in § 4 Ziff. 2 a Abs. 1 Satz 2 MTV normierte „Geprägetheorie“ ist selbstverständlich auch auf die Gehaltsgruppen A und B anzuwenden, da es sich bei den Gehaltsgruppen A und B lediglich um Untergruppen zu den Gehaltsgruppen I und II handelt. In der Folge sind sämtliche im Tarifvertragssystem angelegten Eingruppierungsregelungen auf die Gehaltsgruppen A und B anzuwenden.
Dessen ungeachtet sollte bei der Anwendung der Tarifgruppen A und B aufgrund der Tatsache, dass der Lohnunterschied zu den höheren Gehaltsgruppen nicht unerheblich ist, von den Unternehmen ein gewisses „Augenmaß“ gewahrt werden. - Mit dem Begriff des „Scannens“ ist lediglich das Ablichten von Dokumenten gemeint, da in der Versicherungswirtschaft Produkte, jedenfalls im Zuge der Posteingangsbearbeitung, nicht gescannt werden.
- Die Regelung des § 5 Ziff. 2 MTV ist ohnehin auf die Gehaltsgruppen A und B anzuwenden, da es sich bei den Gehaltsgruppen A und B um Untergruppen der Gehaltsgruppen I und II handelt.
Die Geschäftsführung des AGV hat mehrere Posteingangszentren begutachtet um den Anwendungsbereich der Gehaltsgruppen A und B zu ermitteln. Auf Grundlage dieser Begutachtung wurden die in der Anlage zu diesem Rundschreiben beigefügten Erläuterungen erstellt.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Michael Niebler, Dr. Sebastian Hopfner